Aktuelle Architektur in Zürich

Lieber leise als laut

12.09.17

„Archi­tektur und Städ­tebau sind der Sound­track unseres Lebens.“ Das sagte einmal Patrick Gmür, Schweizer Archi­tekt und ehe­ma­liger Direktor des Amts für Städ­tebau der Stadt Zürich. Und wie klingt Zürich? Laute Töne oder gewagte Impro­vi­sa­tionen sind eher die Aus­nahme. In der größten Stadt der Schweiz, mit derzeit etwas über 400.000 Ein­wohner:innen, ist Zurück­hal­tung gefragt. Es werden lieber die leisen Töne ange­schlagen, melo­di­sche Stücke, präzise auf­ge­baut und von hoher Qua­lität. Jüngster Zugang im Reper­toire der Stadt ist die neue Swiss Re-Zen­trale am Zürichsee, die Diener und Diener Archi­tekten in

einen glä­sernen Vorhang hüllten und die Anfang Oktober eröffnet wird. Ein Ein­blick in das Bauen in Zürich der ver­gan­genen Jahre.

Zürich erlebt dank stei­gender Ein­wohner;innen­zahlen während der letzten 15 Jahre wieder einen Bauboom. Da freie Grund­stücke inner­halb der Stadt Man­gel­ware sind, kon­zen­triert man sich seit den 1990ern auf Ersatz­neu­bauten und die Umnut­zung frei­wer­dender Indus­trie­zonen, wie unter anderem in Neu-Oer­likon, Leut­schen­bach, Zürich West oder an der Euro­paallee. Letz­tere zählt zu den letzten großen inner­städ­ti­schen Flächen, die derzeit trans­for­miert werden. Seit 2009 ent­steht entlang der

Bahn­trasse zwi­schen dem Haupt­bahnhof und der Lang­strasse auf 78.000 Qua­drat­me­tern Fläche ein neues Quar­tier mit Gewerbe-, Ein­zel­han­dels- und Büro­flä­chen, hoch­prei­sigen Woh­nungen sowie einer Hoch­schule. Den Mas­ter­plan ent­wi­ckelten KCAP Archi­tects&Plan­ners. Zu den aus­füh­renden Büros zählen unter anderem Max Dudler Archi­tekten, die die erste Etappe, das östlich gele­gene Baufeld A, sowie mit Gigon Guyer und David Chip­per­field das angren­zende Baufeld C bebauten. Bis 2020 sollen alle acht Bau­felder des neuen Quar­tiers fertig gestellt sein.

In Zürich wachsen Palmen nur drinnen: Blick aus dem neuen 25hours Hotel an der Lang­straße auf die Gleise des Haupt­bahn­hofs, links im Hin­ter­grund der Prime Tower von Gigon Guyer.
(Foto: 25hours Hotels)

Trotz zen­traler Lage zwi­schen dem Haupt­bahnhof und dem belebten Kreis 4 ver­missen einige Kri­tiker:innen bisher die Anbin­dung an die Umge­bung, sie sehen in der Euro­paallee eine nüch­terne Beton­wüste. In Anbe­tracht der Dimen­sion bedarf es wohl einfach Geduld, denn es braucht eben seine Zeit, bis Leben in ein neues Quar­tier ein­kehrt. Mit den beiden kürz­lich fer­tig­ge­stellten Bauten im Westen, in unmit­tel­barer Nähe zur Lang­strasse, könnte jedoch ein erster Schritt in Rich­tung Bele­bung gelingen: Im Gebäude von E2A Archi­tekten eröff­nete im April ein wei­teres 25hours Hotel, dessen Bar und Restau­rant neben den Hotel­gästen auch Zürcher:innen anziehen.

Und nebenan ver­sam­melt seit Sep­tember das neue Kul­tur­haus „Kosmos“ mit Kino, Bühne, Buch­laden, Bistro und Bar Kul­tur­lieb­haber:innen aller Sparten.

Auf der anderen Seite des Gleis­betts führt ein kurzer Spa­zier­gang stadt­aus­wärts durch den Kreis 5 nach Zürich West. Dort bot das ehe­ma­lige Indus­trie­quar­tier durch den Wegzug der ver­ar­bei­tenden Gewerbe ab den 1990ern eine der größten freien Flächen inner­halb der Stadt. Bis auf wenige Bau­vor­haben ist der Ent­wick­lungs­plan, der Wohnen, Büros und Gewerbe vor­sieht, rea­li­siert.

Städ­te­bau­liche Akzente setzen dabei unter anderem der Prime Tower von Gigon Guyer, der mit seiner skulp­tu­ralen, grünen Glass­fas­sade mitt­ler­weile zum Wahr­zei­chen der Stadt wurde, das Toni-Areal, ehemals ein Mol­ke­rei­be­trieb, den EM2N zur Kunst­hoch­schule mit Wohn­turm umbauten oder das Löwen­bräu-Areal, das Gigon Guyer und Atelier WW zum Kunst­zen­trum mit Wohn­hoch­haus und Büro­ge­bäude trans­for­mierten. Ganz ver­schwunden ist die Indus­trie aus Zürich West aller­dings nicht. Jüngst wurde der 118 Meter hohe Swiss Mill Tower fertig gestellt, eine Auf­sto­ckung des wei­terhin genutzten Korn­silos mit zuge­hö­riger Mühle neben dem Löwen­bräu-Areal.

Bild 1 von 13: Groß­pro­jekt Euro­paallee: Seit 2009 ent­steht entlang der Bahn­trasse zwi­schen dem Haupt­bahnhof und der Lang­strasse auf 78.000 Qua­drat­me­tern Fläche ein neues Quar­tier mit Gewerbe-, Ein­zel­han­dels- und Büro­flä­chen, hoch­prei­sigen Woh­nungen sowie einer Hoch­schule. Bis 2020 sollen alle acht Bau­felder des neuen Quar­tiers fertig gestellt sein.

Bild 2 von 13: Nam­hafte Archi­tek­tur­büros konnten Pro­jekte im Quar­tier rea­li­sieren. Hier das Büro­ge­bäude Haus Lager­straße von Gigon Guyer. Das Büro hat gemeinsam mit David Chip­per­field und Max Dudler ein Areal namens Euro­paallee 21 für eine Groß­bank geplant. (Foto: Stefan Müller)

Bild 3 von 13: Der Schweizer Archi­tekt Max Dudler hat das Haus an der süd­west­li­chen Ecke des Ensem­bles gebaut. (Foto: Stefan Müller)

Bild 4 von 13: Eben­falls nach einem Entwurf von Max Dudler: das Per­so­nal­re­stau­rant zum Innenhof. (Foto: Stefan Müller)

Bild 5 von 13: Ein wei­terer Bau­stein der Euro­paallee 21: das Büro­ge­bäude von David Chip­per­field Archi­tects. (Foto: Stefan Müller)

Bild 6 von 13: E2A Archi­tekten haben dieses Haus an der Lang­straße ent­worfen, in das kürz­lich das zweite Zürcher 25hours Hotel ein­ge­zogen ist. (Foto: 25hours Hotels)

Bild 7 von 13: Kein Kli­schee! In Zürich hängen die Freitag-Taschen von der Decke, wie hier im Foyer des neuen 25hours Hotels. (Foto: 25hours Hotels)

Bild 8 von 13: Bereits 2012 fer­tig­ge­stellt: das soge­nannte Baufeld A der Euro­paallee mit Gebäuden für die Päd­ago­gi­sche Hoch­schule Zürich und ergän­zender Büro- und Laden­nut­zung, eben­falls vom Büro Max Dudler geplant. (Foto: Stefan Müller)

Bild 9 von 13: Das ganze Ent­wick­lungs­ge­biet auf einen Blick mit den Neu­bauten und dahinter dem Gleis­feld und dem Haupt­bahnhof. (Foto: Stefan Müller)

Bild 10 von 13: Gigon Guyer haben auch das Löwen­bräu-Areal trans­for­miert, zum Kunst­zen­trum mit Wohn­hoch­haus und Büro­ge­bäude, gemeinsam mit und Atelier WW. (Foto: Thies Wachter)

Bild 11 von 13: Ein weg­wei­sender Stadt­bau­stein für den Kreis 4: die Wohn- und Gewer­be­sied­lung Kalk­breite von Müller Sigrist Archi­tekten. (Foto: Martin Stel­len­wert, Zürich)

Bild 12 von 13: Sie vereint ganz ver­schie­dene Nut­zungen unter einem Dach: Das Erd­ge­schoss des Block­rands inte­griert zum einen das städ­ti­sche Tram­depot und setzt zum anderen die für das Quar­tier typi­schen, klein­tei­ligen Nut­zungs­struk­turen fort. Darüber liegt ein öffent­li­cher Park, der von Woh­nungen für 250 Men­schen umschlossen wird. (Foto: Martin Stel­len­wert, Zürich)

Bild 13 von 13: Der Prime Tower von Gigon Guyer mit seiner skulp­tu­ralen, grünen Glass­fas­sade ist mitt­ler­weile zum Wahr­zei­chen der Stadt geworden. (Foto: Thies Wachter)

Prägend im Zürcher Stadt­bild werden künftig nicht nur neue Hoch­häuser sein. Laut Sta­tistik soll die Bevöl­ke­rung bis zum Jahr 2030 um 20 Prozent zunehmen und damit auch die Zahl der Wohn­bauten und -sied­lungen. Einen großen Anteil, aktuell etwa 25 Prozent des gesamten Woh­nungs­be­standes, macht dabei der genos­sen­schaft­liche und kom­mu­nale Woh­nungsbau aus. Bekanntes Bei­spiel hierfür ist die Wohn- und Gewer­be­sied­lung Kalk­breite von Müller Sigrist Archi­tekten, die ganz ver­schie­dene Nut­zungen unter einem Dach vereint: Das durch­gän­gige Erd­ge­schoss des Block­rands inte­griert zum einen das städ­ti­sche Tram­depot und setzt zum anderen die für das Quar­tier typi­schen, klein­tei­ligen Nut­zungs­struk­turen fort.

Darüber liegt ein öffent­li­cher Park, der von Woh­nungen für 250 Men­schen umschlossen wird. Auf dem lange Zeit brach­lie­genden Grund­stück ent­stand so ein weg­wei­sender Stadt­bau­stein für den Kreis 4.

Für Auf­merk­sam­keit und Dis­kus­si­ons­stoff sorgen neben den neuen Are­al­be­bau­ungen und Wohn­bau­pro­jekten auch eine Reihe Ein­zel­bauten. Aktuell zum Bei­spiel die neue Swiss Re-Zen­trale am Zürich­see­ufer, die Diener und Diener Archi­tekten gerade fer­tig­stellen. Kom­plett in eine gewellte Glas­fas­sade gehüllt, setzt es sich deut­lich von seinen Nach­bar­bauten, dem Swiss Re-Stamm­haus von 1913 und dem Mythen­schloss ab.

Letz­teres, eben­falls Teil des Swiss Re-Campus, wurde 1982 abge­rissen und mit neo­klas­si­zis­ti­scher Fassade wieder auf­ge­baut. Bald wird es jedoch einem Neubau von Meili Peter weichen, womit abzu­warten bleibt, wie sich die beiden neuen Bauten als Ensemble in das Stadt­bild fügen.

Auch die Indus­trie ist noch präsent in der Stadt: das kürz­lich auf­ge­stockte Korn­silo des Unter­neh­mens Swiss Mill neben dem Löwen­bräu-Areal. Im Vor­der­grund: der Fluss Limmat mit dem Flussbad Unterer Letten.
(Foto: Swiss Mill)

Auf der anderen See­seite den Hügel hinauf wandelt sich derzeit das Hoch­schul­ge­biet am Rande der Alt­stadt. Erster rea­li­sierter Bau des Mas­ter­plans ist das Lee-Gebäude von Fawad Kazi, das mit seiner zweck­mä­ßigen und nüch­ternen Fassade an Bauten in Zürich West oder an der Euro­paallee erin­nert und sich diskret in die Stadt­sil­hou­ette fügt. Auch die für 2020 geplante Erwei­te­rung des Kunst­mu­seums durch David Chip­per­field ist Teil des Ent­wick­lungs­ge­biets.

Patrick Gmür bezeichnet den Bau mit seiner Sand­stein­fas­sade als zurück­hal­tend und unauf­fällig, „typisch Zürich“ also.

Hin und wieder erklingen trotz aller Zurück­hal­tung dann aber doch ein paar laute Töne. Zum Bei­spiel mit San­tiago Calat­ravas mar­kanten Gleis­dä­chern für den Bahnhof Sta­del­hofen, die er der Stadt in den 1990ern ver­passte. Nun plant er in unmit­tel­barer Nähe ein neues Geschäfts­haus mit auf­fäl­liger Glas-Stahl-Lamel­len­fas­sade.

Während sich die einen eupho­risch über „einen Hauch von großer Welt“ freuen, ist vielen der Bau, der sich wie ein „Kreuz­fahrt­schiff“ in das Stadt­bild schiebt, zu extra­va­gant. Zürich mag es eben doch am liebsten leise und diskret – dabei kann ein Cre­scendo an der rich­tigen Stelle durchaus für Abwechs­lung sorgen.